08/11/2024 0 Kommentare
Pilgerträume
Pilgerträume
# ÖPI

Pilgerträume
I.
Welchem Traum gehe ich nach,
wenn ich pilgere, wandere?
Ich möchte mich bewegen,
mich verbinden mit der Natur,
mit Himmel, Erde, Luft und Meer.
Im Fluss sein, im Hier und Jetzt.
Meinen Körper spüren, sehen, hören, fühlen, riechen.
Das Gestern ist Geschichte,
das Morgen ein Geheimnis,
das Heute ein Geschenk.
Ich bin im Heute.
Ich bin verbunden mit dem Ganzen.
Ich kann Gras sein.
Ich kann Erde sein...
Ich gehe.
Wenn ich alleine unterwegs bin,
bin ich mehr bei mir,
raus aus dem Alltag,
Routinen durchbrechen.
Ich kann Erlebnisse eindrücklicher wahrnehmen.
Ich freue mich über neue unbekannte Einblicke, Eindrücke,
unerwartete Erfahrungen und Erlebnisse –
so vieles, das mich begeistert und vertieft
mich belebt und inspiriert.
Ich tue etwas,
das mein Körper sowieso braucht.
Gleichzeitig ist das aber auch ein sehr guter Weg,
den Gedanken freien Lauf zu lassen,
tiefe Gespräche zu führen,
sich wie ein Kind zu freuen,
zusammen zu lachen.
Diese Freiheit zu spüren,
diese Lebendigkeit zu fühlen,
zu erleben, wie gut all das tut –
ist das nicht traumhaft?
II.
Von einer Frau aus unserem Hamburger Pilgerteam,
Gabriela Mußbach, stammen diese Worte,
die wir soeben gehört haben.
Sie hat das aufgeschrieben,
als ich Menschen
aus unserem Kreis der Pilgerbegeisterten in Hamburg
gebeten habe,
in Worte zu fassen,
wie das für sie zusammengeht:
Pilgern und Träumen,
Träumen und Pilgern,
was ihnen in den Sinn kommt,
wenn sie diese gedankliche Brücke schlagen
von dem einen zu dem anderen.
Ich kann viel anfangen mit diesem persönlichen Statement.
Denn in der Tat;
Wir gehen einem Traum nach,
wenn wir zum Pilgern aufbrechen.
Einem Traum von einem anderen Leben,
so ganz anders als wir es aus unserem Alltag kennen,
ungebunden von vielem,
was uns sonst festhält,
mit offenen Augen für Dinge,
die wir sonst nicht sehen,
weil wir so beschäftigt sind,
mit einer anderen Freiheit der Gedanken,
die mit uns spazieren gehen,
während wir auf der Wanderschaft sind.
Das ist aber kein Fliehen vor der Realität in eine Traumwelt,
sondern ein gelebter Traum,
der uns– wenn wir zurückkehren –
auch für unser sonstiges Leben bereichert,
uns Lebensperspektiven aufzeigt
und unsere Maßstäbe und Prioritäten zurechtrückt.
Pilgern bleibt also im Idealfall gerade nicht etwas Losgelöstes,
das mit unserem alltäglichen Leben nichts zu tun hat.
Im Gegenteil:
Auch wenn manchmal nach einer traumhaften Pilgerreise
die Rückkehr in den Alltag schwerfällt,
so ist doch gerade das eine Qualität des Pilgerns,
wenn uns das gelingt,
dass dieser gelebte Traum, dem wir da folgen,
anschließend auch unser sonstiges Leben befruchtet,
wenn davon also Impulse dafür ausgehen,
wie wir unser Leben nach der Pilgerreise
sehen und angehen wollen…
III.
Dabei hält das Pilgern ja nicht nur
in einer solchen rein positiven Hinsicht
traumhafte Erfahrungen für uns bereit.
Nein!
Es kann ja durchaus geschehen,
dass wir uns auf unserem Pilgerweg
unversehens in einer Alptraumsequenz wiederfinden:
Wenn es ganzen Tag aus Kübeln regnet
und dann kommt auch noch ein unangenehmer Wind
von vorn dazu.
Wenn es unterwegs irgendwo nicht mehr weitergeht,
weil ein Weg gesperrt ist,
weil wir uns verlaufen haben
oder weil unser Körper nicht mehr richtig mitmachen will.
Oder wenn das vermeintlich gebuchte Quartier
irgendwie doch nicht mit uns gerechnet hat
und jetzt unerwartet schon alle Betten belegt sind.
Dann ist der Weg eben kein schöner Traum,
sondern eher das Gegenteil davon…
Doch was wir beim Pilgern eben auch in solchen schwierigen Situationen
für unser Leben lernen können, ist,
dass solche Alpträume eben doch irgendwann zu Ende sind
und dass man schließlich eben doch ankommt,
auch wenn es einem zwischendurch
schier endlos erscheint…
Auch solche Erlebnisse,
die wir nicht wirklich gebraucht hätten
bei unserem Traum vom Pilgern,
können unser Leben bereichern.
Denn die Erfahrung, da durchgekommen zu sein,
stärkt unsere Resilienz,
und bereitet uns auf Abschnitte auf unserem Lebensweg vor,
auf denen nicht alles glatt läuft
sondern ebendiese Widerstandskraft gefragt ist.
IV.
Doch nicht nur in einer solchen individuellen Sichtweise
hält das Pilgerns traumhafte Momente für uns bereit,
sondern auch in einer gemeinschaftlichen Perspektive.
Denn beim Pilgern erleben wir in besonderen Augenblicken
eben auch einen guten Traum davon,
wie die Welt sein könnte
nicht nur die kleine Welt jedes und jeder einzelnen,
sondern die Welt als Ganze:
Die Welt als ein Ort,
an dem Menschen durch Begegnung und Gespräch lernen,
einander zu achten,
so wie an einem Abend in einer Pilgerherberge.
Die Welt als ein Ort,
an dem Gastfreundschaft als Reichtum angesehen wird,
so wie man am Abend eines langen Tags irgendwo ankommt
und dort willkommen geheißen wird
und merkt, wie gut das tut
Die Welt als ein Ort,
an dem die Menschen die Schönheit der Schöpfung
tief in sich aufnehmen
und sie deshalb als wunderbares Geschenk behandeln,
so wie wir es spüren,
wenn sich uns unterwegs die Augen öffnen
und wir plötzlich begreifen, wie wundervoll diese Welt ist,
die uns umgibt.
Frieden, Gerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung –
diese hehren Ziele für eine bessere Weltordnung erleben wir beim Pilgern
beiläufig – im wahrsten Sinne des Wortes.
Denn all das geschieht eher nebenbei, wenn wir laufen,
und oft ganz absichtslos, ohne großen moralischen Überbau.
Wir gehen ja nicht los,
weil wir zuallererst auf
Frieden, Gerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung aus sind.
Doch wir begreifen im Vorbeigehen,
wie all das gehen könnte:
Wie Frieden entsteht dadurch,
dass wir auf andere zugehen,
das Gespräch suchen, Erfahrungen teilen.
Wie Gerechtigkeit kein abstraktes Ideal mehr ist,
wenn Menschen teilen lernen,
wenn sie sich miteinander arrangieren müssen
und gemeinsam im Blick haben,
das jeder bekommt, was er oder sie braucht.
Und wir begreifen,
wie die Bewahrung der Schöpfung
ihren wesentlichen Antrieb
im Gefühl der Ehrfurcht und Dankbarkeit hat,
das einen unterwegs erfüllt.
Wir gehen also nicht nur in individueller Hinsicht
einem Traum von einem anderen Leben nach,
sondern wir verfolgen dabei zugleich beiläufig
den Traum einer anderen Welt.
Was wir unterwegs erleben,
prägt auch in dieser Hinsicht unser Denken und Handeln.
V.
Und manchmal tut sich uns,
wenn wir gehen,
sogar auf traumhafte Weise der Himmel auf,
so wie es Jakob in der Geschichte erlebt,
die wir gehört haben.
Manchmal bekommen wir dann etwas zu fassen von dem Traum,
den Gott für unser Leben bereit hält.
So wie bei Jakob und seinem Traum:
Es kann geschehen,
dass wir– wie Jakob – erfasst werden von dem Segen,
den Gott uns spenden will
und den Reichtum begreifen,
mit dem er uns beschenkt.
Und es kann passieren,
dass wir – wie Jakob –die Begleitung durch Gott spüren
dass wir gestreift werden von der Gewissheit,
dass wir unseren Weg nicht allein gehen
sondern da einer ist,
der auf uns achtgibt.
Auch dieser Traum ist keine Eintagsfliege,
wir nehmen ihn mit nach Hause,
und er wirkt dort in uns nach.
So wie bei Jakob,
hat der Traum, den wir unterwegs erleben,
Konsequenzen dafür,
wie wir danach auf die Welt blicken
und durch die Welt gehen.
So wie es Dorothee Sölle in einem Gebet ausdrückt,
das wie für unseren heutigen Nachmittag
geschrieben zu sein scheint:
Du hast mich geträumt gott
wie ich den aufrechten gang übe
und niederknien lerne
schöner als ich jetzt bin
glücklicher als ich mich traue
freier als bei uns erlaubt
Hör nicht auf mich zu träumen gott
ich will nicht aufhören mich zu erinnern
dass ich dein baum bin
gepflanzt an den wasserbächen
des lebens
Franz Karpa, Pilgerpastor der Nordkirche
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